„Lügenpresse“? Krise der Kommunikation

Hr-Intendant Dr. Helmut Reitze (2.v.l.) sprach beim lions-Club in Bad Arolsen. Unser Bild zeigt ihn mit Clubpräsident Ulrich Welteke und Iris Welteke sowie Mdl Armin Schwarz (l.).

HR-Intendant Reitze unternimmt vor Gästen des Bad Arolser Lions-Clubs einen Ausflug nach „Digitalien“

Die tiefgreifende Vertrauenskrise, von der Nachrichten-Medien und andere Institutionen der Demokratie betroffen sind, war zentrales Thema eines Vortrags von Dr. Helmut Reitze bei einem Benefizessen des Lions-Clubs Bad Arolsen vor rund 130 zahlenden Gästen in der Fürstlichen Reitbahn des Welcome-Hotels.

Bad Arolsen. Der Intendant des Hessischen Rundfunks war nach BvB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke, den Ministerpräsidenten Volker Bouffier, Roland Koch und Hans Eichel ein weiterer prominenter Redner bei der Arolser Lions-Tafel. Der Erlös des Abends ist wie immer für die sozialen Projekte des Lions-Clubs bestimmt. Ein Großteil geht traditionsgemäß an den ökumenischen Tafel-Laden. Außerdem wollen die Lions in diesem Jahr den von der Uni Kassel entwickelten, tragbaren Wasserfilter Paul fördern, der ohne großen Aufwand in Krisenregionen in aller Welt eingesetzt werden kann.

„Mann mit Fliege“

Als „Mann mit Fliege“ ist Dr. Helmut Reitze einem Millionenpublikum bekannt. Der frühere ZDF-Redakteur und Moderator des heute-Journals ist seit 2003 Intendant des Hessischen Rundfunks. Als gebürtiger Nordhesse kämpft er nach eigenem Bekunden dafür, dass die Region Nordhessen beim „südhessischen Rundfunk“ die ihr zustehende Aufmerksamkeit erfährt.

Nach dem Abitur 1971 in Kassel volontierte Reitze bei der HNA und arbeitete dort bis 1974 als Redakteur, unter anderem in Korbach. An der Philipps-Universität Marburg studierte er Volkswirtschaft, machte 1978 sein Diplom und wurde 1980 zum Doktor der politischen Wissenschaften (Dr. rer. pol.) promoviert. 

Mit diesem Hintergrund ist Reitze prädestiniert, sich mit den für viele verstörenden Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft und in der internationalen Politik zu beschäftigen. Das von den Nazis geprägte und zuletzt von Pegida-Anhängern verwendete Schimpfwort „Lügenpresse“ lässt nicht nur viele Journalisten ungläubig staunen, sondern ist auch von der Gesellschaft für Deutsche Sprache zum Unwort des Jahres 2014 bestimmt worden. 

Als Kern des Problems machte Dr. Reitze eine gravierende Störung der Kommunikation im Lande aus. Dazu müsse man wissen: „Kommunikation passiert einfach so. Man weiß nie, ob die Botschaft auch so ankommt, wie sie gemeint war. Der Sender sendet mehr oder weniger unbewusst eine Botschaft an den Empfänger, der eine Erwartungshaltung hat. Trifft die Botschaft nicht die Erwartungshaltung, gibt es ein Problem. Wenn alles schief läuft, gibt es am Ende zwei Sender, aber keinen Empfänger.

„Wenige Klicks“

In der Massenkommunikation gebe es besondere Phänomene: In der deutschen Medienlandschaft des vergangenen Jahrhunderts habe es nur wenige Fernsehsender und Zeitungen, aber viele Empfänger gegeben.
Eine Reaktion der Empfänger habe es in dieser Welt allenfalls über Leserbriefe gegeben. 

Doch seit dem Siegeszug des Internets hätten sich die Regeln geändert: Neuerdings gebe es unendlich viele Sender. Und der Rückkanal sei extrem schnell geworden. Mit nur wenigen Klicks entspanne sich nicht selten eine Diskussion unter vielen Tausend Sendern und Empfängern. Damit verbunden sei eine fundamentale Veränderung der Massenkommunikation. 

Reitze schilderte, wie eine Äußerung seines Sohnes zum Nachrichtenkonsum ihn stutzig gemacht habe: „Wenn die Information wichtig für mich ist, wird sie mich erreichen.“ 

Zunächst habe er diesen Satz nicht verstanden. Inzwischen aber sei klar, wie die Information über Facebook und andere soziale Netzwerke funktioniere: Freunde verteilen Nachrichten unter Freunden und sorgen dafür, dass die für diese Gruppe interessanten Nachrichten ankommen. 

Reitze: „So entsteht ein neues Bild der Wirklichkeit in den Köpfen der Menschen.“

500 Jahre habe es gedauert, bis die Menschen ihr Weltbild nicht mehr von reisenden Händlern oder Kirchenbildern prägen ließen, sondern von Büchern und Zeitungen. Nun also das Internet mit seiner virtuellen Welt.
Das Land „Digitalien“ sei fundamental anders als die Wirklichkeit. 

Da sei jeder Einzelne Regisseur seiner eigenen Wirklichkeit. Eindrucksvoll schilderte der HR-Intendant, wie immer mehr abgeschottete Gruppen, seien es Impfgegner oder Pegida-Anhänger, für Argumente Andersdenkender nicht mehr erreichbar seien und auch ihn, einen Repräsentanten des von manchen als „Lügenpresse“ verhassten Systems, mit Schimpftiraden und Schmähbriefen überhäuften. 

Grund für diese Entwicklung sei auf der einen Seite offenbar ein Vertrauensverlust: „Vertrauen und Glaubwürdigkeit muss man sich erarbeiten.

“ Auf der anderen Seite aber seien es die Mechanismen des Internet, die es Anhängern verquerer Ideen sehr leicht mache, Gleichgesinnte zu finden und in angeschlossenen Räumen zu kommunizieren: „Da wird Irrsinn gesellschaftsfähig und diskussionswürdig. … Die nehmen nur noch zur Kenntnis, was dem eigenen Weltbild entspricht.“
Letztes sei auch ein Grund für die Selbstradikalisierung bis dahin völlig angepasster Jugendlicher. Die meisten der jungen Dschihadisten, die sich der Terrororganisation Islamischer Statt anschlössen, seien nicht von irgendwelchen Imamen, sondern von YouTube-Videos und in sich abgeschlossenen Internetforen radikalisiert worden.

„Medienerziehung wichtig“

Diese zu erreichen und von ihrem Tun abzuhalten sei offenkundig schwierig. Reitze: „Ich habe da auch keine Lösung.“ Der HR-Intendant räumte in seinem an Medien- und Selbstkritik nicht zurückhaltenden Vortrag ein, dass er selber kein Eingeborener dieses neuen Landes „Digitalen“ sei und einen gewissen „Migrationshintergrund“ habe.

Umso wichtiger sei Medienerziehung in den Schulen, die digitale Alphabetisierung. Der souveräne und kritische Umgang mit dem Internet und seinen Möglichkeiten sei schließlich eine wichtige Voraussetzung für das Leben und die Demokratie in der modernen Gesellschaft. Journalisten komme dabei die Aufgabe zu, aufklärerisch tätig zu sein. Mit Fakten und möglichst ohne Emotionen.

Von Elmar Schulten